Der Umgang mit der Wahrheit – sind Geheimnisse in einer Beziehung erlaubt?

Vor kurzem stellte eine Kollegin einen Fall vor. Es ging um ein Paar. Der Mann hatte vor vier Jahren eine Affäre gehabt. Die Frau hatte sich trotz Schmerz gegen eine Trennung entschieden, und die beiden waren einander als Paar wieder sehr nahe gekommen. Trotzdem kam es immer wieder zu Schwierigkeiten, aktuell, weil die Ex-Geliebte seit einiger Zeit nur wenige Straßen weiter wohnte.

Ich gab zu bedenken, dass auch nach einer Affäre nicht immer die ganze Wahrheit gesagt werden würde. Und dass mich interessieren würde, was der Mann möglicherweise dazu beigetragen hat, dass seine Affärenpartnerin es jetzt für eine gute Idee hält, in die Nähe zu ziehen.

Wird in Therapien immer die Wahrheit gesagt?

Das ärgerte einen der anwesenden Kollegen. Er fragte, wie ich mir anmaßen könne, die Vertrauenswürdigkeit meiner Klient*innen zu beurteilen.

Meine Antwort: Gar nicht. Aber ich versuche mir ein Bild darüber zu machen, was passiert ist.  Und meine Klient*innen versuchen, mir ein Bild darüber zu vermitteln.

Wenn jemand erzählt, er habe den Kontakt zu seiner Affäre vollständig abgebrochen, nur ausgerechnet in dem einen Moment, in dem seine Frau ihm sein Handy rüberreicht, schreibt diese Frau aus unerfindlichen Gründen plötzlich eine SMS, die auf dem Bildschirm erscheint, dann kann das ganz genauso sein. Oder auch nicht.

Wenn der gleiche Mensch Stein und Bein schwört, dass er seit der Affäre niemals eine andere als seine Frau auch nur begehrlich angeschaut hat, dann kann das auch sein – ist aber extrem unwahrscheinlich. Normalerweise betrachtet jeder von uns, ganz gleich ob Männlein oder Weiblein, manchmal andere attraktive menschliche Wesen mit Wohlgefallen.

Widersprüche machen mich neugierig

Und wenn er auch immer wieder, sobald die Sprache auf die Affäre kommt, darauf hinweist, dass das doch vorbei und das Paar wieder auf einem guten Weg ist, und dass man besser nach vorne schauen sollte, dann hat er einerseits recht. Und andererseits vermeidet er Spannungen, die durch die unerfreulichen Themen entstehen. Das ist keine gute Voraussetzung dafür, dass das Paar offen über das spricht, was nötig ist.

Doch zum Glück entscheide nicht ich, ob etwas wahr oder nicht wahr ist. Es reicht in diesem Fall, diesem Mann genau diese drei Dinge aufzuzählen, und ihn zu fragen, was eine Frau mit gesunden Menschenverstand wohl für Schlüsse aus diesen Beobachtungen zieht.

Ich entscheide nicht, was wahr und unwahr ist. Aber ich weise auf Widersprüche hin.

Der Kollege war überhaupt nicht zufrieden mit meiner Antwort. Er wollte wissen, ob ich der Meinung sei, dass man in einer Partnerschaft grundsätzlich kein Geheimnis voreinander haben dürfe?

Ich musste etwas schmunzeln. „Grundsätzlich“. Als ob es so einfach wäre. Hier meine Antwort:

Das ist eine gute Frage bezogen auf die Arbeit mit Paaren. Schließlich prägen und leiten unsere Wertvorstellungen auch unser therapeutisches Vorgehen. Gut, wenn wir sorgfältig hinschauen.

Unsere Aufgabe als Therapeut*innen ist es den Klient*innen zu ermöglichen, ihre eigenen Werte zu formulieren.

In meiner persönlichen Beziehung habe ich den Anspruch, dass mein Mann von dem weiß, was mich bewegt und was mir wichtig ist (und ganz ehrlich: sich in jemand anders zu verlieben, oder die Aufregung einer Affäre ist bewegend). Das ist die Art Beziehung, die ich leben will. Das bedeutet, ich erzähle ihm von diesen Dingen, auch wenn es ihn ärgert oder verunsichert oder enttäuscht. Oder wenn es dazu führt, dass er an Trennung denkt. Nicht, weil er ein Recht darauf hat, nicht, weil ich ihn damit quälen will, sondern weil es der Beziehung entspricht, die ich leben will.

Es ist das gute Recht meiner Kient*innen, Wertvorstellungen zu entwickeln, die meinen nicht entsprechen. Wie zum Beispiel: „Dinge die mich selbst betreffen und dich beunruhigen könnten, erspare ich dir. (Und mir erspare ich damit auch unerfreuliche Auseinandersetzungen)“.

Oder auch: „Wir teilen unseren Alltag und behandeln uns respektvoll. Wenn einer von uns eine Affäre hat, dann tun wir das mit maximaler Diskretion. Loyalität bedeutet für uns, den anderen nach außen nicht bloßzustellen, und in der Beziehung freundlich miteinander umzugehen. Dazu gehört, den anderen nicht mit dem Wissen um eine Affäre zu belasten.“

Oder auch: „Ich möchte mich in meiner Beziehung sicher fühlen. Und deshalb ist mir wichtig, dass du nicht fremdgehst. Gleichzeitig will ich mich auch frei fühlen können. Was bedeutet, dass ich bei Bedarf sexuelle Kontakte habe, die ich dir nicht erzählen werde, damit du diese Freiheit nicht auch für dich beanspruchst.“

Als Therapeutin sehe ich meine Aufgabe darin, diese Entscheidungen zu klären, zu würdigen und gegebenfalls darauf hinzuweisen, dass ein Teil der Probleme des Paares mit den Kosten dieser Entscheidung zu tun haben. Andere Entscheidungen (wie zum Beispiel meine) haben andere Kosten.

Meine Aufgabe als Therapeutin ist nicht, zu be- oder verurteilen, sondern den Entscheidungsspielraum für die Menschen in meiner Beratung zu vergrößern. Damit sie sich im Klaren sind, welche Konsequenzen es hat, sich alles zu erzählen. Oder sich Bedeutsames zu erzählen. Oder schwierige Themen zu vermeiden. Aber vor allem damit sie sich bewusst entscheiden, welche Art von Beziehung sie miteinander führen wollen, und was sie selbst bereits sind dafür zu tun.

Fortbildungen bei Berit Brockhausen

Fortbildungsreihe „Einführung in die Paartherapie“ bei Berit Brockhausen. Veranstalterin: Deutsche Gesellschaft für Verhaltenstherapie (DGVT).

Aufbauseminare Paartherapie zu verschiedenen Themen und Methoden für Kolleg*innen mit paartherapeutischer Erfahrung. Veranstalterin: DGVT

Video: Esther Perel. Das Geheimnis des Begehrens in festen Partnerschaften

Buch: Esther Perel. Wild Thing. Die Rückkehr der Erotik in die Liebe

 

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