Was tun, wenn man einfach keine Lust mehr auf Sex mit dem Partner verspürt? Und was könnte die Ursache dafür sein? Sexologin Ann-Marlene Henning und Slow-Sex-Expertin Yella Cremer haben Antworten – und Tipps, um das eigene Sexleben neu zu entdecken.

In vielen Partnerschaften schwindet die Lust auf Sex nach anfänglicher Verliebtheit. Wie sehr dieses Problem Menschen umtreibt, konnte man jüngst in Berlin erleben. 600 Menschen kamen zur ICONIST-Veranstaltung „Sex Education“* mit der Sexologin Ann-Marlene Henning und der Slow-Sex-Expertin Yella Cremer in der Berliner Urania zusammen. Thema: „Make love mal langsam – Tipps für ein langfristig angelegtes Liebesleben“. Nicht nur die Moderatorin Brenda Strohmaier hatte dazu etliche Fragen, auch das Publikum war anschließend überaus wissbegierig.

 

ICONIST: Frau Henning, schon in der ersten Folge Ihrer Fernsehsendung „Make Love“ ging es damals um ein Pärchen, bei dem die Frau seit langem keine Lust mehr auf Sex mit ihrem Partner hatte. Ist das ein typischer Fall?

Ann-Marlene Henning: Es sind nicht immer die Frauen, die keine Lust haben. Es kommen auch sehr viele Männer mit dem Problem zu mir. Typisch aber war an dem Fall, dass die Partner darüber nie sprachen. Viele Jahre lang! Das hört man oft, die Leute finden sich sehr lange damit ab. Die wichtigen Fragen sind dann: Hast du keine Lust auf den Sex an sich, also spürst du unten wirklich nichts? Oder hast du keine Lust auf diesen bestimmten Menschen? Oder den Sex, den du mit ihm haben könntest?

ICONIST: Was kommt häufiger vor?

Henning: Sehr viele Frauen sagen, dass sie wirklich wenig im Genital empfinden. Dann bekommen sie die Hausaufgabe, nachzuspüren. Wo fühlt man die Erregung? Viele sagen im Kopf – aber der Impuls im Gehirn kommt ja davon, dass es unten verstärkt durchblutet wird.

ICONIST: Sie haben gerade noch einen Master in Sexologie gemacht, dafür haben Sie 1330 Frauen über ihr Verhältnis zu ihrer Vulva befragt – oder Moment, war es die Vagina?

Henning: Gute Frage. In Untersuchungen über das weibliche Genital wird da oft nicht differenziert. Wir haben die Vulva gewählt.

ICONIST: Außen Vulva, innen Vagina, richtig?

Henning: Richtig. Ich habe 1330 Frauen im Alter von 16 bis 82 Jahren gebeten, ihre Vulva einzuschätzen. Die mit dem positivsten genitalen Selbstbild hatten mehr Orgasmen, mehr Sex und größere sexuelle Zufriedenheit als die mit dem weniger positiven Selbstbild. Man kann also sagen: Es ist gut, wenn ich weiß, wie das eigene Genital heißt und dass ich da hinfühle und -gucke.

ICONIST: Manche Therapeuten raten zu ausgiebigem Kuscheln, um dauerhafte Intimität zu erleben. Andere sagen, man solle etwas auf Distanz gehen, damit das Liebesleben interessant bleibt.

Henning: Ich glaube, es ist eine Mischung aus beidem. Nähe ist gut und wichtig, zu nah ist problematisch. Paare, die sich zu nah sind, trauen sich oft nicht, bestimmte Dinge anzusprechen, aus Angst, den Partner zu verletzen oder selbst abgelehnt zu werden. Eine gewisse Distanz ist also gut, aber ist man zu weit voneinander entfernt, wird das auch wieder ein Problem. Ein Extrembeispiel für zu viel Distanz wäre ein Paar, bei dem eine Person jedes Wochenende in den Swingerklub geht, obwohl die andere Person sagt, dass sie dies nicht mag.

Yella Cremer: Ich finde auch beides wichtig. Es geht darum, sich Andersartigkeit zu erlauben. Wie wird man beispielsweise gerne angefasst? Der eine will gestreichelt werden, der andere findet es schöner, wenn die Hand des Partners ganz ruhig auf dem eigenen Bein liegt. Intimität entsteht dadurch, dass ich authentisch bin und das, was ich fühle, entspannt mit dem Partner teilen kann. Intimität ist nichts, was kreiert werden muss. Sie ist da, wenn man sich und den anderen so nimmt, wie man ist.

Henning: Ich würde gerne noch mal zu dem Pärchen vom Anfang zurückkommen. Der Mann fing den Sex immer damit an, dass er an den Brustwarzen seiner Frau rumdrehte. Männer scheinen generell zu glauben, dies würde Frauen in Stimmung bringen. Aber die meisten Frauen finden das erst gut, wenn sie schon erregt sind. Diese Frau hatte ihrem Mann zehn Jahre lang nicht gesagt, dass sie das störte.

ICONIST: Frau Cremer, sie haben ein Buch über Slow Sex geschrieben, eine Praktik, die Ihr eigenes Sexleben mit Ihrem Mann gerettet hat. Was ist Slow Sex?

Cremer: Beim Slow Sex lernt man, Gewohnheiten zu vergessen. Wie etwa, dass guter Sex immer einen Orgasmus beinhalten muss. Oder ein hohes Level von Erregung. Beim Slow Sex geht es nicht darum, etwas zu erreichen. Die Hauptsache ist eine entspannte Absichtslosigkeit. Es geht darum, sich Zeit zu nehmen, zu entspannen und sich nicht ablenken zu lassen. Je weniger man tut, desto mehr spürt man.

ICONIST: Frau Henning, das passt doch dazu, dass Sie vor allem Männern raten, wenn sie älter werden, beim Sex zu entspannen und langsamer zu werden.

Henning: Absolut. Schnelligkeit stört die Wahrnehmung. Denn je schneller das Tempo, desto angespannter ist man. Und bei Anspannung spürt man weniger. Ab circa 50 Jahren ist es dann in der Missionarsstellung gar nicht mehr so einfach, die Erektion ab einem gewissen Tempo zu halten.

ICONIST: Der Tipp für ältere Männer ist also, einfach langsamer zu werden und sich weniger anzustrengen?

Henning: Das rate ich allen Männern, die Probleme mit ihrer Erektion haben, ganz egal, wie alt sie sind. Sobald ein Mann merkt, dass er früher kommt, als er möchte, oder er seine Erektion verliert, sollte er nicht schneller werden, da kommt der Höhepunkt noch schneller oder die Erektion schlafft ab. Langsamer werden hilft dagegen in beiden Situationen, weil mehr gespürt wird, so auch mehr Kontrolle und Steuern möglich ist.

Cremer: Beim Slow Sex lernt man, sich in der Anfangsphase sogar gar nicht zu bewegen. Oder nur ganz minimale Bewegungen zu integrieren, anstatt große Bewegungen zu machen, bei denen man viele Muskelgruppen anspannen muss. Das schafft Intimität. Und für so eine Art Penetration brauche ich nicht mal eine Erektion, das geht auch ganz ohne oder – wie wir sagen – al dente. Wenn ich mich dagegen sehr anstrenge und dann vielleicht auch noch Angst habe, die Erektion zu verlieren, lenkt das so ab, dass ich in dem Moment keine Nähe zu der Partnerin oder dem Partner empfinden kann.

ICONIST: Die Orgasmusfixiertheit sitzt aber doch unglaublich tief, ist über Jahre gelernt, auch per Porno. Wie kommt man davon wieder weg?

Cremer: Man muss sich selbst erlauben, Neues über Sex zu lernen. Viele Menschen denken, sie probieren mal etwas aus, und das muss direkt beim ersten Mal funktionieren. Wie wenn man zum ersten Mal eine Gitarre in die Hand nimmt und denkt, man kann sein Lieblingslied direkt perfekt spielen. Slow Sex ist ein Lernprozess. Es ist ein Verlernen von Gewohnheiten und ein Lernen, sich auf neue Dinge einzulassen.

ICONIST: Wie ein Leben ohne Orgasmen?

Cremer: Das Ziel, „keinen Orgasmus“ zu haben, ist nur eine Übung, aber keine Vorschrift. Slow Sex ist nicht gegen Orgasmen – nur gegen Orgasmen, die erarbeitet oder angestrebt werden. Wenn die sich aber von allein und stimmig ergeben, ist das wunderbar. Es gibt auch Paare, die die Praktik ausprobieren und dann immer zwischen heißem, Orgasmus-anstrebendem Sex und Slow Sex wechseln.

Henning: Schließen sich heißer Sex und Slow Sex denn aus?

Cremer: Slow Sex kann heiß werden, dazu braucht es aber viel Erfahrung, damit ich nicht doch währenddessen anfange, einen Orgasmus anzustreben. Es gibt einen ganz einfachen Test, hier die Abgrenzung zu ziehen: Nämlich indem man sich beim Sex fragt, ob man jetzt aufhören könnte und damit völlig fein wäre. Wenn ich das könnte, ist es Slow Sex. Wenn ich aber das Gefühl hätte, dass ich dann unbefriedigt wäre, hatte ich doch eine Absicht.

ICONIST: Statistisch haben wir immer weniger Sex. Was müsste man tun, damit die Gesellschaft wieder mehr Lust hat?

Cremer: Wir haben ein unfassbar durchgetaktetes Leben und viel Stress. Die meisten Menschen begreifen Sex als etwas Spontanes, das nur zum richtigen Zeitpunkt passiert – aber der Sex ergibt sich nicht, wenn das Leben komplett verplant ist. Komischerweise bekommt ausgerechnet unsere Beziehung keinen Kalendereintrag – dafür alles andere. Wir müssen Sex also eine größere Wichtigkeit geben und Raum dafür schaffen.

Henning: Und man sollte sich erlauben und eingestehen, dass es okay ist, keine Lust zu haben. Es ist okay, wenn ich mich mit meinem Partner für Sonntag verabrede, nur um eng umschlungen nebeneinander zu liegen, den Atem des anderen zu spüren und zu wagen, sich gegenseitig in die Augen zu schauen. Und abzuwarten, ob dabei noch etwas anderes passiert – oder eben nicht.

Anonyme Fragen aus dem Publikum:

Zuschauer*in: Ich bin in einer homosexuellen Beziehung: Mein Partner mag nur Petting und Oralsex, mir ist Penetration aber sehr wichtig, weil es für mich die Urform der Intimität darstellt. Was könnte die Lösung für uns sein?

Ann-Marlene Henning: Ich glaube, viele Leute denken, dass Schwule natürlich Analsex haben. Aber das stimmt nicht. In meiner Sendung „Make Love“ gab es auch ein schwules Paar, bei dem ein Partner keinen Analsex mochte. So konnte sich das Paar nicht körperlich vereinen, wie es der andere Partner gerne wollte. Eine Sofortlösung gibt es dann nicht. Eine mögliche Richtung für Entwicklung ist es aber, das sensible Anal-Gewebe langsam und behutsam zu erforschen. Dann entspannt sich die Lage wörtlich. Oft kommt die erste spontane Ablehnung des Analen schlicht dadurch, dass man es mit Schmerz oder Schmutz verbindet – dabei muss das beides gar nicht sein. Wenn man genug darüber weiß.

Yella Cremer: Es geht auch hier um Intimität. Es hilft, einen Schritt zurückzugehen und sich zu fragen: Wie kreiere ich die? Darüber in Kontakt kommen und dieses Gefühl kreativ auf andere Wege herzustellen kann auch eine Lösung sein.

Zuschauer*in: Wie wichtig ist Selbstbefriedigung?

Cremer: Alles fängt damit an, mich selbst zu kennen – davor muss ich gar nichts mit einer anderen Person anfangen.

Henning: Das war ja im Grunde auch das Ergebnis meiner Studie über das genitale Selbstbild. Die Frauen, die das positivere Bild hatten, haben sich auch häufiger befriedigt. Jetzt weiß man natürlich nicht, ob sie sich angefasst haben, weil das Selbstbild positiv war – oder ob sie ein positives Bild entwickelt haben, weil sie sich angefasst haben.

Cremer: Selbstbefriedigung ist allerdings ein Wort, das ich sehr unfein finde …

Henning: … in Selbstbefriedigung steckt wieder ein Ziel!

Cremer: Genau. Als müsse man etwas erreichen. Ich mag das Wort Selbstliebe mehr.

ICONIST: Wie ist dann das Verb? Ich mache Selbstliebe?

Cremer: Ja! Den Begriff Solosex mag ich auch gerne. Der drückt auch aus, dass es sich um eine ernst zu nehmende Form der Sexualität handelt. Kein Notnagel oder Ersatzprogramm.

Henning: Das ist auch oft ein Thema in meiner Praxis. Dass eine der beiden Personen nicht möchte, dass die andere Solosex betreibt. Aber vielleicht kann man mit einer solchen positiven Umbenennung auch eine Einstellungsveränderung hervorrufen. Dass Eigenerotik durchaus gut für die Beziehung sein kann.

Zuschauer*in: Ich habe zurzeit keine Sexualpartner, aber würde gerne Slow Sex mit mir selbst praktizieren. Wie mache ich das?

Cremer: Das ist dann eine absichtslose Selbstberührung. Die darf sinnlich und sexuell sein, aber bewusst ohne Ziel. Slow Sex lässt sich somit eins zu eins auf Sex mit sich selbst übertragen.

Zuschauer*in: Ich bin erst seit einem Jahr in einer glücklichen Beziehung, verspüre aber nur einmal pro Monat wirkliche Lust und kommuniziere das offen. Was kann ich tun?

Henning: Dieser Person erscheint es falsch, dass sie nur einmal im Monat Lust verspürt. Aber vielleicht ist das für sie genau richtig? Der Druck, wohl öfter zu müssen oder sollen, ist in diesem Fall das primäre Problem. Der erste Schritt wäre, die natürliche Lust anzuerkennen, und die ist dann eben nur einmal im Monat da. Das ist dann gut und richtig.

Zuschauer*in: Werden Menschen aggressiv, wenn sie kein Sexleben haben?

Henning: Es gibt durchaus Leute, die wissen, dass sie keinen Sex wollen – oder nicht mehr wollen und damit zufrieden sind. Wenn beide sagen, sie haben keine Lust, Sex wäre ja so aufwendig, dann muss nicht weiter drüber gesprochen werden, dann ist doch alles wunderbar. Aber oft ist es eben nur ein Part in der Beziehung, der keinen Sex will, und das frustriert dann den anderen.

Cremer: Genau, wenn ich keinen Sex habe und ich hätte ihn gerne, dann kann es natürlich durchaus sein, dass ich sauer werde, bitter oder unzufrieden. Aber es kann eben auch, wie Ann-Marlene sagt, genau das Richtige sein, keinen Sex zu haben.

Zuschauer*in: Ist BDSM mit Slow Sex kombinierbar?

Cremer: Ja, natürlich. Achtsamkeit lässt sich in jedem Bereich verwirklichen. BDSM hat unglaublich viele Ausprägungen. Ein wichtiger Teil dabei ist das Fühlen und Wahrnehmen und dass ich mich bewusst in bestimmte Zustände versetze oder begebe. Ich vergleiche das gerne mit Essen: Niemand verbietet mir, Pizza zu essen, nur weil ich Sushi mag. Ob es zum gleichen Zeitpunkt geht, weiß ich nicht, damit habe ich keine Erfahrungen. Aber auch hier gilt: einfach ausprobieren.

Zuschauer*in: Kann Polygamie das Sexleben in Beziehungen verbessern?

Henning: Kann, muss aber nicht. Zumindest gibt es Gefahren, die man kennen sollte. Das Risiko einer emotionalen Verletzung ist hoch. Ich erlebe es häufig, dass Paare zu mir kommen uns sagen: Wir wollen unsere Beziehung öffnen – worauf müssen wir achten? Es braucht klare, deutliche Absprachen, an die man sich hält. Man kann nämlich auch hier untreu werden, indem man vereinbarte Dinge nicht einhält. Eine Regel könnte zum Beispiel sein, dass man jede fremde Person nur einmal sieht und keine emotionale Beziehung zu ihr aufbaut. Auch die Verhütung muss geklärt werden. Und ob man darüber informiert werden möchte, mit wem der Partner schläft und wie es war. Das sind Dinge, die richtig groß werden können und zu Komplikationen führen, wenn man nicht drüber spricht.

Cremer: Wenn sich ein Paar für eine offene Beziehung entscheidet, muss es sich fragen, ob es bereit ist, die Arbeit zu machen, die anfällt – Ich nenne das bewusst Arbeit, weil sich die Kommunikation multipliziert. Ich muss mich mit jeder Person in diesem Konstrukt absprechen. Und wenn ich das nicht tue, geht es ganz schnell bergab.

Zuschauer*in: Wir sind zu dritt – zwei Männer und eine Frau. Wie können wir es umgehen, dass beim Sex eine Person körperlich und emotional außen vor ist?

Cremer: Das ist ja eigentlich eher eine emotionale denn eine körperliche Frage. Körper kann man in allen möglichen Kombinationen nahe und zusammenbringen – aber wenn ich das Gefühl habe, einer purzelt raus, ist das etwas Emotionales. Die Verbindung geht verloren. Ich fühle mich nicht mehr gewollt oder nicht mehr gesehen. Dann muss ich mit den anderen darüber sprechen, was ich in dem Moment brauche, um mich verbunden zu fühlen. Vielleicht brauche ich jemanden, der mir in die Augen schaut. Blicke. Oder eine Hand auf meinem Bein. Hier braucht es ein individuelles Maßschneidern. Und viel Kommunikation,

Zuschauer*in: Ist Slow Sex ein ähnlicher Bewusstseinszustand wie Trance?

Cremer: Das kommt scheinbar von einer Person, die Trance-Erfahrung hat, deshalb würde ich Ja sagen. Für alle, die diesen Zustand nicht kennen: Trance ist ein Zustand, den wir durchaus alltäglich erleben können, den wir aber oft nicht abgrenzen und benennen können. Slow Sex führt meiner Erfahrung nach auch in ungewöhnliche Bewusstseinszustände. Die Verbindung geht weit über „deine Haut liegt auf meiner Haut“ hinaus. In dem Sinne ja, es ist eine Bewusstseinsveränderung, eine Tiefe oder Erweiterung … je nachdem, wie man es nennen will.

Zuschauer*in: Kann man auch Slow-Sex-Quickies haben?

Cremer: Absolut, und die empfehle ich gerne Menschen, die schon Erfahrung mit Slow Sex haben. Das ist eine ganz wunderbare Möglichkeit, sich nach dem Aufwachen oder vor dem Einschlafen sexuell zu vereinigen. Gerade für Paare, die einen vollen Alltag haben, ist das eine tolle Sache.

Zuschauer*in: Haben Sie Tipps für das Sexualleben von traumatisierten Frauen, die sexuellen Missbrauch erfahren haben?

Henning: Das ist eine wichtige Frage, weil es leider viel zu häufig passiert. Der Erregungsreflex ist zwar angeboren, alles andere ist aber angelernt. Das Genital ist also das eine, das andere ist, wie ich den Sex empfinde. Frauen, die Missbrauch erlebt haben, haben eine negative Lernerfahrung in Bezug auf Sexualität. Einige dieser Frauen erzählen in meiner Praxis, dass sie beim Sex mit ihrem Mann, den sie lieben, dessen Penis oder dessen Spermien nicht ertragen können. Das hat einen guten Grund, denn wer Penisse oder Spermien im Kontext einer Missbrauchshandlung kennenlernt, speichert meist beides negativ ab. Den eigenen Körper erst mal besser kennenzulernen, um die eigenen Grenzen zu erspüren, um mehr Sicherheit zu bekommen, ist nach Missbrauch meist eine nötige und wichtige Arbeit. Erst dann wird es auch mit dem Partner entspannter. Da muss sehr behutsam vorgegangen werden, aber das Tolle ist, dass Fortschritte möglich sind. Der beste Ratschlag ist hier, sich therapeutische Hilfe zu holen, und zwar von jemanden mit sexualtherapeutischer Ausbildung.

Cremer: Ich glaube auch, dass es ganz wichtig ist, sich Unterstützung zu holen. Es gibt verschiedene Kurzzeittherapien und Techniken, die man zum Teil auch zu Hause anwenden kann. Auch Slow Sex kann zum Verlernen und Neulernen beitragen. Aber in dem Moment, in dem ich langsamer und achtsamer werde, können Erlebnisse auch erst ins Bewusstsein gerufen werden, die da vorher geschlummert haben und die bisher verborgen waren. Es ist oft sehr viel Arbeit, bis man weiß, wo man hinwill und bis man sich wieder für andere öffnen kann. Aber niemand muss mit seinem Trauma bis zum Lebensende unglücklich sein.

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