In meiner sexualtherapeutischen Ausbildung in Berlin sitzen vor allem Frauen. Die meisten von ihnen sind Psychologinnen, Frauenärztinnen, Physiotherapeutinnen und Sozialarbeiterinnen. Ich habe auch mal irgendwann studiert, der berufliche Hintergrund, vor dem ich diese Fortbildung mache, ist aber die Tantramassage und ich weiß zwar nicht genau, was für ein Bild die anderen TeilnehmerInnen von mir haben, aber ich bin sicher, dass es maßgeblich durch diese Tatsache geprägt wurde. Neulich fragte mich während der Mittagspause in unserer Lieblingskneipe im Wedding eine von ihnen, warum denn Frauen zu einer Massage zu mir kämen. Ob es da um Lust ginge? Die Gespräche um uns herum verstummten, die Aufmerksamkeit verlagerte sich auf mich und ich konnte spüren, wie mein Alarmsystem hochfuhr. „Jetzt nur nichts Falsches sagen, sonst bist du unten durch!“ riet es mir.
Ich sagte, die Motive der Frauen seien unterschiedlich, es ginge viel um anatomisches Wissen, darum, das Spüren zu lernen, ausdrücken zu können, was frau gefällt und darum, mit neuen, guten, selbstbestimmten Erfahrungen alte, schlechte, fremdbestimmte Erfahrungen aufzuarbeiten und zu überschreiben. Allgemeines anerkennendes Nicken belohnte meine Ausführungen. Wer hat schon etwas dagegen, dass Frauen etwas lernen und geheilt werden? Ermutigt durch die positive Reaktion erläuterte ich die verschiedenen Methoden, mit denen ich arbeite und hatte gegen Ende der Mittagspause das angenehme Gefühl, im Ansehen der Anwesenden gestiegen zu sein. Aber auf dem Rückweg zum Seminarort fiel mir auf, dass ich die Ausgangsfrage gar nicht beantwortet hatte.
In meinem Bestreben, als angehende Sexologin ernst genommen zu werden, hatte ich die Lust verraten und verleugnet. Ich hatte ihr nicht den Stellenwert zugestanden, der ihr gebührt und ich ärgerte mich über meinen Kleinmut und mein Gefallen-Wollen. Denn ich weiß es besser.
In einem Tantramassage-Ausbildungsseminar, bei dem ich assistiert habe, hatten wir mal die Situation, dass ein Massagepaar akustische Verständigungsschwierigkeiten hatte. Nach der Massage kam dann zur Sprache, dass aus diesem Grund sowohl das „Bitte aufhören!“ des Mannes als auch das „Bitte mehr!“ der Frau unerhört geblieben waren. Vor allem die Frau reagierte sehr betroffen. Sie fühlte sich schuldig, weil sie ein „Nein!“ überhört hatte. Dass ihr „Ja!“ nicht erhört worden war, fand sie nicht so wichtig. Ich sagte daraufhin, dass ersteres für den Betroffenen zweifellos schlimm sein könne, dass es aber auch sehr schmerzhaft sein könne, wenn ein „Ja! Ich habe Lust! Ich möchte mehr!“ nicht gehört würde. Ich weiß nicht, woher ich diesen Satz nahm, aber in dem Moment, in dem ich ihn aussprach, spürte ich, dass er wahr ist.
Bei meinen Massagen geht es gerade darum, dass alles willkommen ist. Wir sind es gewohnt zu erwarten, dass unser Körper mit Lust reagiert, wenn bestimmte Körperstellen berührt werden. Wir sind es nicht gewohnt, nichts zu erwarten, sondern hinzuspüren, was genau wir gerade empfinden und das dann auszudrücken. Wenn ich eine Frau in der Massage dazu anleite und sie sich darauf einlässt, kommen oft erst mal Ratlosigkeit und dann Tränen. Es ist eine neue Erfahrung, dass auch diese Gefühle willkommen sind und ihre Berechtigung haben. Und wenn alle Gefühle willkommen sind, dann wechseln sie oft so schnell wie die Wolkenbilder am Himmel. Sie sind ständig in Bewegung, wie die Oberfläche des Wassers. Alles, was unsere Gefühle wollen, ist gesehen zu werden und da sein zu dürfen. Und wenn dann in einer Massage die Lust auftaucht – oft ganz unerwartet, wenn keiner mit ihr rechnet – dann ist das weder besser noch schlechter als irgendetwas anderes, was während der Massage passiert.
Warum haben wir eigentlich so ein Problem mit der Lust?
Wir sind es gewohnt, in Dualismen zu denken: Etwas ist entweder lustvoll oder heilsam, lustvoll oder spirituell, lustvoll oder gesund. Dass etwas alles gleichzeitig sein kann, passt schlecht in unseren Kopf. Und das ist ein großer Teil des Problems, das wir alle mit Körperlichkeit und Sexualität haben. Was ist verdammt noch mal falsch und schlecht daran, wenn etwas sich gut anfühlt? Warum trauen wir eher einem Weg, der schmerzvoll ist als einem, der (auch) lustvoll ist? Kann etwas nicht vielleicht auch manchmal schlicht und einfach deshalb gut sein, weil es gut tut? Je mehr ich mich mit dem Thema befasse, desto skandalöser erscheint es mir, dass es immer noch so tabuisiert ist, sich mit der Lust zu beschäftigen. Wir wollen sie, wir brauchen sie, sie tut uns gut, sie macht uns stark und vital – wo ist eigentlich das Problem??
Als ich wieder zurück in dem ehemaligen Fabrikgebäude war, in dem unsere Seminare stattfinden, suchte ich die Medizinerin, die mir die Frage nach der Lust gestellt hatte und sagte, mir sei aufgefallen, dass ich ihre Frage gar nicht richtig beantwortet hätte. Ich erzählte ihr, dass die Lust bei meiner Arbeit immer eingeladen sei , genau wie alles andere. Dass es nicht meine Aufgabe sei, sie zu „machen“, aber dass ich sehr wohl die Traute und auch das Herz hätte, meine Klientinnen nicht nur durch Trauer, Schmerz und Wut zu begleiten, sondern auch durch Wollust und Ekstase.
Genau dafür bin ich unter anderem ausgebildet worden. Das heißt nicht, dass es einfach ist und dass jeder das kann, aber es ist ja auch nicht jeder zum Chirurgen geboren. Ich fände es fatal, wenn ich mich an diesem Punkt zurückziehen würde, wenn ich meine Klientinnen mit ihrer Lust alleine lassen und ihnen so das Gefühl geben würde, dass daran irgendwas nicht in Ordnung sei, dass sie zu viel oder unpassend sei. Gerade das ist oft das größte Geschenk: Ihnen zu zeigen, dass sie mir auch mit ihrer Lust willkommen sind und dass sie sich ihrer nicht zu schämen oder sie zu verstecken brauchen. Darin bin ich dann wie die ideale Mutter, die die meisten von uns nicht gehabt haben. Dieses Erleben hilft meinen Klientinnen, die Lust in ihr Selbstbild zu integrieren, sie nicht mehr abzuspalten und abzuwerten sondern als einen integralen Bestandteil zu erleben. Und DAS ist heilsam und gesund.
Die Ausbildungskollegin hat gut verstanden, was ich versucht habe auszudrücken und sie hat sich für meine Offenheit bedankt. Wir gehen jetzt öfter zusammen in der Mittagspause essen.
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Hanna Krohn arbeitet am Rand von Hamburg als Gesundheitspraktikerin für weibliche Sexualität. Sie gibt Frauenmassagen und Sexualcoachings für Frauen, leitet Workshops, Seminare und einen Frauenkreis, schreibt unregelmäßig auf dem Blog ihrer Homepage und ist Mutter von drei Kindern.
Hallo Hanna Krohn, aus meiner männlichen Wahrnehmung – ein sehr gelungener, schöner Beitrag zur Lust.
Danke!
Großartiger Text! Es erinnert mich an mein Gerichtsversfahren zu der Frage, ob meine Tantra-Seminare Heilkunde sind. Das Gegenargument lautete: Die Leute kommen, weil sie sich davon einen Lustgewinn versprechen. Dann kann es wohl nicht um Heilung gehen.
Gegen diese Spaltung im Kopf war es schwer anzukommen.
Danke, Saleem.
Ja, bei mir hatte ich die Situation zuletzt, als ich eine Berufsunfallversicherung abschließen wollte. Mir wurde die Frage gestellt, ob die Menschen „nur“ zu mir kämen, um mehr Lust zu verspüren oder weil sie gesundheitliche Probleme hätten…
Lieben Gruß, Hanna